Prisma - Magazin: 31. Juli 2001  
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Giftgas: Zeitbomben in der Ostsee

Giftgas: Zeitbomben in der OstseeDie Wellen der Ostsee toben, als würden sie sich aufbäumen gegen ein furchtbares Geheimnis, das sich unter der Meeresoberfläche verbirgt: tausende Tonnen Munitionskörper mit Giftgas aus dem Zweiten Weltkrieg, nach Kriegsende hier versenkt. Man sieht sie nicht unbedingt, meistens deuten nur Wrackteile auf sie hin.

Aber irgendwo im Sand und Schlick liegen sie, korrodieren allmählich, ihr giftiger Inhalt läuft aus. Einige Gifte, wie der Nervenkampfstoff "Tabun" oder das Lungengift "Phosgen", werden bei Berührung mit Wasser abgebaut und lösen sich auf.

Aber nicht alle, wie Professor Niels-Peter Rühl vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie verrät: "Es gibt Ausnahmen. Dazu gehören zum Beispiel verschiedene Senfgas-Verbindungen wie der sogenannte C-Lost, wo Senfgas versetzt worden ist mit einer Plastik-Masse. Und dort kann das Wasser nur an der Oberfläche angreifen, nur an der Oberfläche abbauen. Aber, wenn dann jemand, der nicht weiß um was es sich handelt reingreift, dann kann er durch diesen Hautkampfstoff verletzt werden."

1945 liegt Deutschland in Trümmern. In Hitlers Munitions-Arsenalen stoßen die Sieger auf dreihundert Tausend Tonnen Kampfstoff-Munition, die während des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zum Einsatz gekommen ist. Ein fürchterliches Erbe, das dringend beseitigt werden muss. In einer geheimen Mission versenken die Alliierten die Bomben im Meer. Sie sind mit sechzigtausend Tonnen Gift gefüllt.

Etwa die Hälfte der chemischen Waffen werden zwischen 1945 und 1947 im Skagerrak, der Schneise zwischen Nord- und Ostsee südlich von Norwegen, entsorgt. Ganze Schiffe mit insgesamt mehr als hunderttausend Tonnen giftiger Munition an Bord werden in etwa tausend Meter Tiefe versenkt. Außerdem gibt es Deponien in flacheren Gewässern: im "Kleinen Belt", südlich von Bornholm und im so genannten "Gotland Becken", wo Munitionskörper lose über Bord geworfen werden.

In der Forschungsstelle des Moskauer Shirshov Instituts für Ozeanologie in Kaliningrad, dem früheren Königsberg ist die chemische Verseuchung der Ostsee Thema Nummer eins.

Russische Wissenschaftler haben bei den verschiedenen Deponien der alten Munitionskörper zwischen Skagerrak und Ostsee Wasserproben entnommen. Auch wenn die Labor-Ausrüstung nicht dem modernsten Standard entspricht, werden hier genaue Analysen durchgeführt, um den Grad der Verseuchung und das daraus abzuleitende Gefahrenpotential zu bestimmen.

Für die Experten, wie Dr. Vadim Paka vom Shirshov Institut, steht fest, dass die Kampfstoffe am Meeresboden das ökologische Gleichgewicht des Meeres nachhaltig extrem belasten und gefährden: "Unsere Untersuchungen vor Bornholm und im Skagerrak haben ganz eindeutig Schwermetalle und Arsen nachgewiesen. Außerdem haben wir kürzlich mit Hilfe militärischer Suchgeräte Spuren von Senfgas und Sarin gefunden. Das ist ein hundertprozentiges Zeichen dafür, dass die Ummantelungen der Bomben porös sind und hochtoxische Stoffe ins Wasser dringen."

Die Gefährdung durch Giftstoffe bewerten die russischen Wissenschaftler anders als ihre Kollegen im Westen. Die berufen sich auf eine "Studie der Helsinki Kommission von Ostsee-Anrainer Staaten" von 1993. Aus ihr geht hervor, dass "keine großräumige Kontamination aufgrund chemischer Kampfstoffe in baltischen Gewässern zu befürchten ist".

Da keine exakten Angaben vorliegen und vor allem die USA und England ihre Archive bis heute nicht geöffnet haben, befürchten immer mehr russische Wissenschaftler eine ökologische Zeitbombe.

Wie Tengiz Borisov, Vize-Admiral der Russischen Marine distanzieren sich russische Wissenschaftler immer mehr von von dieser Interpretation: "Nach unserer Einschätzung droht ein Desaster. Wenn wir den Austritt und die Verbreitung der Giftstoffe nicht verhindern, sind wir im Bezug auf die Folgen vollkommen machtlos. Auch unser Ministerium zur Vorbeugung ökologischer Katastrophen kann dann nichts mehr ausrichten. Wenn der Geist erstmal aus der Flasche gelassen ist, lässt er sich nicht mehr einsperren."

Vom Skagerrak, heißt es, geht die größte Gefahr aus. Die immensen Senfgasmengen, die dort in den nach 1945 versenkten Schiffen lagern, laufen aus. Sie werden durch starke Meeresströmungen allmählich in der Ostsee verteilt und gelangen über die Nahrungskette schließlich zum Menschen. Ein angebliches Resultat: Missbildungen bei Säuglingen.

Vom Westen werden solche Gefahren vehement bestritten. So hält Professor Niels-Peter Rühl diese Befürchtungen für übertrieben: "Da werden Horrorszenarien konstruiert, die eigentlich mit der Realität wirklich nichts zu tun haben. Und die Sache, die geradezu abenteuerlich ist, ist die Tatsache, dass chemische Kampfstoffe, die in der norwegischen See, in der norwegischen Rinne in 1000 Meter Tiefe versenkt worden sind, durch Strömungen in die Ostsee kommen könnten und sich dort negativ auswirken könnten. Das ist ausgeschlossen!"

Wie ein Bericht des Schwedischen Fernsehens zeigt, steht fest, dass Senfgas aus durchgerosteten Munitionskörpern schon seit den Fünfziger Jahren immer wieder als schleimige Klumpen den Fischern ins Netz geht. Vor allem südlich von Bornholm und im Gotland Becken, wo Schleppnetze die giftige Masse vom Meeresboden abkratzen können.

Spezialeinheiten der Dänischen Marine stehen für akute Notfälle ständig bereit. Besondere "Erste Hilfe Koffer" an Bord der Fischerboote sollen das Schlimmste verhindern.

Dr. Vadim Paka sieht die größte Gefahr noch bevorstehen: "Als Wissenschaftler müssen wir ständig das schlimmste Szenario vor Augen haben und annehmen, dass das Auslaufen der Gifte am Meeresboden seinen Höhepunkt noch nicht erreicht hat. Wir vermuten, dass ein Großteil der Sprengkörper erst in den kommenden Jahren durchrosten wird. Deshalb müssen wir erneut intensive Untersuchungen anstellen, um schnell einen Plan für den Ernstfall zu entwickeln."

Auf dem Gelände des ehemals geheimen Marinestützpunkts "Baltisk" bei Kaliningrad bauen die Russen ein neues Forschungszentrum, in dem die nächsten Schritte im Umgang mit chemischen Kampfstoffen in der Ostsee erarbeitet werden sollen.

Zuerst müssen bessere Methoden entwickelt werden, die Munitionskörper zu orten. Von den Schiffswracks samt Ladung im Skagerrak abgesehen, liegen die übrigen Bomben kilometerweit am Meeresgrund verstreut und werden zu einem Großteil bereits von Sedimentschichten verdeckt.

Nach der Ortung folgt die Entsorgung. Kunststoff-Pflaster, wie sie die Russen in anderen Fällen unter Wasser erfolgreich verwendet haben, wären eine Möglichkeit. Das favorisierte Lösungsmodell sieht jedoch eine Art Gel vor, das die Sprengkörper umschließt und so ein weiteres Ausdringen giftiger Substanzen verhindern soll. Ein Vorschlag, den deutsche Experten als zu aufwendig und zu teuer abtun.

Andere Ideen aber gibt es bisher nicht - und immer mehr Kritiker unterstellen den europäischen Regierungen, dass sie das Problem verharmlosen.

 
Lagerstätten chemischer Waffen in der Ostsee
Ort Munitionsmenge  Chemiemenge Chemietype
Skagerak ca. 150.000 t ca. 30.000 t  
Bornholmbecken 35,300 t
bis 43,399 t
5,300 t
bis 6,500 t
mustard, Clark I, Clark II, Adamsite, chloroacetophenone, phosgene, nitrogen mustards, Tabun 
Südwestlich Bornholm Bis zu 15,000 t 2,250 t unknown 
Gotlandbecken 2,000 t 300 t unknown 
Kleiner Belt 5,000 t 750 t Tabun, phosgene 

 

HINWEIS
Der nebenstehende Beitrag ist der PRISMA-Webseite entnommen und lediglich um einige Quelldaten ergänzt worden.